Donnerstag, 2. Mai 2013

Der Verfall der Demokratie - was bleibt zu tun?


[Gegenwarts-Szenen aus einer westdeutschen Großstadt, 2011]


Nicht nur, dass der heutige Stand der Dinge in Politik und Wirtschaft allgemein beklagt wird (das wäre für sich genommen nicht sonderlich neu), nein, darüber hinaus wird bisweilen sogar schon von dem bevorstehenden oder gar bereits vollzogenen Eintritt in die postdemokratische Gesellschaft gesprochen.

Henry Farrell schreibt in seinem Essay There is no alternative - Governments now answer to business, not voters. Mainstream parties grow ever harder to distinguish. Is democracy dead? und bezieht sich dabei auf Crouch, Colin: Post-Democracy, John Wiley & Sons, 2004:
"[Colin] Crouch sees the history of democracy as an arc. In the beginning, ordinary people were excluded from decision-making. During the 20th century, they became increasingly able to determine their collective fate through the electoral process, building mass parties that could represent their interests in government. Prosperity and the contentment of working people went hand in hand. Business recognised limits to its power and answered to democratically legitimated government. Markets were subordinate to politics, not the other way around. At some point shortly after the end of the Second World War, democracy reached its apex in countries such as Britain and the US. According to Crouch, it has been declining ever since. Places such as Italy had more ambiguous histories of rise and decline, while others still, including Spain, Portugal and Greece, began the ascent much later, having only emerged from dictatorship in the 1970s. Nevertheless, all of these countries have reached the downward slope of the arc. The formal structures of democracy remain intact. People still vote. Political parties vie with each other in elections, and circulate in and out of government. Yet these acts of apparent choice have had their meaning hollowed out. The real decisions are taken elsewhere. We have become squatters in the ruins of the great democratic societies of the past."
Farell folgt Crouch in seiner Diagnose über die Rolle, die eine unheilvolle Vernetzung von Staat und Wirtschaft spielt:
"Businesses become entangled with the state as both customer and as regulator. States grow increasingly reliant on business, to the point where they no longer know what to do without its advice. Responsibility and accountability evanesce into an endlessly proliferating maze of contracts and subcontracts. As Crouch describes it, government is no more responsible for the delivery of services than Nike is for making the shoes that it brands. The realm of real democracy — political choices that are responsive to voters’ needs — shrinks ever further."
Diese Analyse kulminiert nach Farell in einer harten Alternative zwischen zwei gegensätzlichen Optionen:
"[...] Ever since France’s president François Mitterrand tried to pursue an expansive social democratic agenda in the early 1980s and was brutally punished by international markets, it has been clear that social democracy will require either a partial withdrawal from the international economy, with all the costs that this entails, or a radical transformation of how the international economy works." 
Diese Zuspitzung auf eine binäre Alternative unterschlägt allerdings, dass es selbstverständlich auch noch einen dritten Weg gibt: Weitermachen wie bisher

Wer sich in diesem Sinne konservativ gibt, wird sich vor das Problem gestellt sehen, dass der gesellschaftliche Dampfkesssel eines Tages unter seinem aufgestauten Überdruck zerbersten könnte, was zwangsläufig eine Neuformierung aller Verhältnisse nach sich ziehen müßte. Findige Köpfe suchen daher nach Wegen, wie der Prozess des demokratischen Partizipierens weiter reduziert werden kann, und sogar nicht völlig un-prominente Publizisten wie Konrad Adam werden dabei ertappt, sich vor ihrem derzeit im Vordergrund stehenden Engagement für die neu gegründete rechtspopulistischen Partei AfD schon eimal für Maßnahmen wie das Zurechtschneiden der Wahlbevölkerung erwärmt zu haben, etwa indem man Erwerbslosen und Beamten das aktive und/oder passive Wahlrecht entzieht. Dadurch, so Adam, solle die gegenwärtige Politikblockade aufgebrochen werden:
"Das Übergewicht der Passiven lähmt auf die Dauer auch die Aktiven und zerstört den Willen zur Zukunft."
Vor dem Hintergrund des Duktus des deutschen Grundgesetzes, wie es 1949 proklamiert worden war, sollte man vermuten, dass der Begriff der wehrhaften Demokratie bedeutet, dass sich um derartige Umtriebe der Verfassungsschutz kümmern möge.

Zukunft hat schon einmal besser ausgesehen.

Daniel Bell schrieb 1973 in seinem Hauptwerk The Coming of Post-Industrial Society (New York: Basic Books, 1999):
"In the post-industrial society, what is crucial is not just a shift from property or political criteria to knowledge as the base of new power, but a change in the charaacter of knowledge itself. What has now become decisive for society is the new centrality of theoretical knowledge, the primacy of theory over empiricism, and the codification of knowledge into abstract systems of symbols that can be translated into many different and varied circumstances. Every society now lives by innovation and growth, and it is theoretical knowledge that has become the matrix of innovation. With the growing sophistication of simulation procedures through the use of computers - simulations of economic systems, of social behaviour, of decision problems, we have the possibility, for the first time, of large-scale 'controlled experiments' in the social sciences.  These, in turn, will allow us to plot alternative futures in different courses, thus greatly increasing the extent to which we can choose and control matters that affect our lives. And, just as the business firm was the key institution of the past hundred years because of its role in organizing production for the mass creation of products, the university - or some other form of a knowledge institute - will become the central institution of the next hundred years because of its role as the new source of innovation and knowledge." (Seiten 343-344)
Wir wissen heute, dass Bell sich hier geirrt hat.  Es gilt die Maxime:
"It’s not what you know, it’s who you know. And who knows you."
Nicht das Wissen der Wissensarbeiter ist das, was zählt, sondern das Netzwerk, in dem der Einzelne eingebunden ist. Michael Hartmann schreibt über Habitusgemeinschaften als Substrate für Netzwerke in Unternehmenskontexten (Hartmann, Michael: Der Mythos von den Leistungseliten. Frankfurt/Main: Campus, 2002): 
"Wer es bis in die Chefetage schaffen will, sollte von seiner Persönlichkeitsstruktur her denjenigen ähneln, die bereits in solchen Positionen sitzen. Da wird letzten Endes vor allem nach Gefühl entschieden und weniger nach rationalen Kriterien. " (Seiten 118, 119) 
"Letztlich kulminiert alles in einer zentralen Eigenschaft, die dann auch das wichtigste Kriterium für die Besetzung von Führungspositionen in der Wirtschaft darstellt, der persönlichen Souveränität in Auftreten und Verhalten, der Selbstverständlichkeit, mit der sich jemand in den Chefetagen eines großen Unternehmens bewegt. Sie macht den entscheidenden Unterschied aus zwischen denen, die qua Geburt dazugehören, und denen, die nur dazugehören wollen. Letztere versuchen zwar, sich den Habitus der 'besseren Kreise' anzueignen, aber gerade die Öffentlichkeit ihres Bemühens diskreditiert ihr Verhalten. [...] Man muss die für Spitzenpositionen wesentlichen Persönlichkeitsmerkmale besitzen, ohne dass der Prozess ihres Erwebs erkennbar wird. Das ist der Punkt, auf den es ankommt." (Seite 125)
Nun sind die empirischen Untersuchungen von Hartmann auch schon viele Jahre alt, und ob das von ihm diagnostizierte humanistisch-bildungsbürgerliche Substrat für den herrschenden Habitus immer noch konstitutiv ist, darf man wohl füglich bezweifeln. Wenn man einen der raren Blicke in das Innenleben heutiger Elite-Kaderschmieden des zeitgenössischen Turbo-Kapitalismus wirft, kann einem  jedenfalls angst und bange werden.

Möglicherweise sind bestimmte social Networks wie Linkedin zu einem Teil (!) wenig mehr als virtualisierende Imitate mit Surrogatcharakter von empirisch wirkmächtigen traditionellen Face-to-Face Old-Boys-Networks.

Der Nerd mag als Gegenentwurf zum Netzwerker vielleicht als Sinnbild des Bell'schen aufklärerischen Wissensarbeiters im Zeitalter des Internet angesehen werden. Seine Politisierung im Rahmen des Aufkommens von Piratenparteien war - zumindest am Anfang - nicht ohne aufklärerischen Impetus, vor allem, wenn netzpolitische Fragen anstanden. Inzwischen ist das weitgehend eingetreten, was Schirrmacher bereits 2009 antizipiert hatte - aus ihrem innersten Kern hat sich eine neue "und auch immer un-nerdigere, weil moderne politische Bewegung" formiert. Ein Branding plus eine hinreichend mobilisierbare Mitgliederbasis, so wie eben andere Parteien auch.

Was bleibt, ist anhaltende Ratlosigkeit. Nichts, was man tun kann.

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